Der Bieler Westast schafft es in ein Basler Museum als «historischer Erfolg»

Scheitern Grossprojekte, bleiben Jahre später nur ein paar Ordner voller Papier. Das Basler Architekturmuseum hat nun 20 gescheiterte Bauten ausgestellt. Prominent mit dabei ist auch Biel.

Artikel von Jérome Lechot im Bieler Tagblatt vom 8.1.2024

Der griechische Philosoph Aristoteles dachte, dass wir von Dramen mehr lernen können als von der Geschichte. Weil in der Geschichte von allen denkbaren Verläufen – was wäre, wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten? – genau nur einer beleuchtet wird: derjenige, in dem sie verloren haben. 

Das Drama oder zeitgemässer: die Netflixserie ist jedoch nicht daran gebunden, die Realität so nachzuerzählen, wie sie sich zugetragen hat. Sondern sie kann aus den unendlichen Möglichkeiten schöpfen, jeweils andere Verzweigungen als jene zu nehmen, die die Geschichte tatsächlich genommen hat.

Genau dieser lehrreichen Denkübung in der Möglichkeitsform gibt sich das Architekturmuseum in Basel hin und fragt in seiner neuen Ausstellung zu nie realisierten Bauten in der Schweiz: «Was wäre, wenn…?»

Quelle: Patrick Weyeneth (Archiv Bieler Tagblatt).

In die Leerstelle kommen dann Dinge wie der 380 Meter hohe Turm, den ein Investor ins Bündner Bergdorf Vals pflanzen wollte. Oder, etwas bescheidener, eine Schlaufe, die die Basler Architekten Herzog & de Meuron bei Solothurn in die Aare schlagen wollten, um ein Ökoquartier mit einer Altlastensanierung zu kombinieren.

Oder, wieder etwas weniger bescheiden, die Bieler Westast-Autobahn. Mit 2,2 Milliarden Franken Bausumme hätte sie das teuerste je geplante Bauprojekt auf Bieler Boden werden sollen.

«Es war unglaublich, wie in Biel alle auf die Strasse gegangen sind», sagt Olivia Jenni vom Architekturmuseum, die an der Ausstellung mitgearbeitet hat. Sie gibt zu verstehen: Biel hat sich den Platz in den 20 gescheiterten Grossprojekten der Schweiz keineswegs erschlichen. Im Begleittext ist dort auch von einem «historischen Erfolg» die Rede.

Und so liegen sie also da, auf einem Tisch in einem Basler Museum, die Requisiten der wichtigsten politischen Bewegung der letzten Jahrzehnte: Trillerpfeifen, Pamphlete oder gleich ganze Bücher und Bundesordner wie jene von Benedikt Loderer, damals schlichter Stadtwanderer, heute höchster Bieler.

Das Tiefbauamt in der Endlosschleife

Inmitten des Kampfmaterials liegt ein Tablet, eingeschlossen in eine Plexiglashülle. Eine leicht brüchige Stimme ruft da in der Endlosschlaufe Dinge hinaus, die wie aus einer tiefen Vergangenheit klingen, gegen die sich die Gegenwart entschieden hat.

«Der Tunnel wird in Halbtieflage erstellt. (Pause.)»

«Das Tunneldach liegt über dem Terrain. (Pause.)»

«Das Quartier wird neu gestaltet. (Pause.)»

Die Rede ist hier vom Tunnel, der unter der heutigen Bernstrasse hätte durchführen sollen. Dessen Dach, so sinniert die Stimme im Off, «als Begegnungszone, Spielplatz oder Park» genutzt werden kann. Wodurch das Quartier mit der Abschirmung vom heutigen Verkehrslärm «eine Aufwertung» erfahren hätte. Die Stimme: «Somit nimmt die Lebensqualität zu.» Dann: billige Filmmusik aus den 2000-Jahren.

Urheber dieser Animation zum Westast ist das Tiefbauamt des Kantons Bern. Das sich, den Bundesratsentscheid von 2014, das Bundesamt für Strassen und die Bieler Stadtregierung im Rücken, damals noch siegesgewiss geben konnte: «Durch die enge Zusammenarbeit mit der Regierung ist das vorliegende Projekt breit abgestützt.»

Doch die Stimmung sollte bald kippen, wovon die Flut an Zeitungsartikeln zeugt, die auf einem Tisch verstreut herumliegen und der Stimme stumm widersprechen.

Die historische Realität, wie sie sich daraufhin bald verdichtete, driftete in eine andere Richtung. 2018 wird das Projekt sistiert. Und Stadtpräsident Erich Fehr (SP), der das Projekt ursprünglich noch befürwortet hatte, sagte 2020: «Der Westast ist politisch tot.»

Das Filmchen aber hört das alles nicht und spricht mit blecherner Stimme unbeirrt weiter von «einer wesentlichen Verbesserung der Lebens- und Aufenthaltsqualität in der Region»; davon, dass Gemeinden «effizient vom Durchgangsverkehr» entlastet und «städtebaulich aufgewertet» werden könnten. Und, nach jeweils acht Minuten Laufzeit jedes Mal: «Voraussichtlich 2030 wird dieses Teilstück der A5 dem Verkehr übergeben.»

Die schlafenden Riesen unter der Oberfläche

Die Ausstellung, schreibt Kurator Andreas Kofler, handle von «schlafenden Riesen unter der Oberfläche», die aus allen möglichen Gründen doch nie gebaut werden konnten.

Riesen wie der Schweizer Zentralflughafen, bei dem der internationale Luftverkehr zwischen Rigi, Zugerberg und Albis Zug angesteuert hätte. Oder der 325-Meter-Turm inmitten von Lausanne, der nach den Plänen des Architekten Jean Tschumi den Eiffelturm um einen knappen Meter hätte überragen sollen.

Die klimaneutralsten Bauten

Riesen, von denen hier und da jemand vielleicht bereuen mag, dass sie nicht gebaut wurden. Oder von denen wir heute, im Nachhinein, ganz froh sind, sind sie nie Wirklichkeit geworden.

Denn diese nie gebaute Realität, die das Architekturmuseum exploriert, unterscheide sich letztlich nicht stark von dem, was in der Schweiz dann auch tatsächlich gebaut wurde, wie das Begleitschreiben zur Ausstellung unterstreicht: «Auch in dieser Parallelwelt wird gerodet, abgerissen, betoniert, verbraucht, zersiedelt.»

Und doch könnte ein wichtiger Unterschied nicht grösser sein: Anders als die Projekte, die heute aus armiertem Beton auf unbestimmte Zeit aus dem Boden ragen, sind diese vergangenen möglichen Welten – das zeigt die Ausstellung sehr eindrücklich – nur noch ein paar Requisiten, Fotos und Bilder schwer.

Damit seien sie, wie Kurator Kofler schreibt, auch die «klimaneutralsten Bauten», die je im Architekturmuseum ausgestellt wurden. Denn: «Sie wurden nie gebaut.»

Klimaneutraler als der Westast: Was von ihm heute übrig bleibt.

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